Linguistische Verschiebung
Ebenso wie die Umgangs- und Hochsprache unterliegt auch die Fachsprache in den Wissenschaften und die Sprache von Wissenschaftlern dem Wandel, und die linguistische Verschiebung vom passiven zum aktiven Genus Verbi in der Wissenschaftssprache findet - grob geschätzt - deutlicher und verstärkt seit dem Millennium statt. Das zeigt sich nicht nur in Texten, sondern auch in anderen Bereichen: man wurde diplomiert promoviert, habilitiert, emeritiert, berufen etc. - heute mache ich den Bachelor oder Master, ich promoviere, habilitiere, emeritiere, ich bin der "Rufinhaber"; die Teilnahme an einer Lehrveranstaltung wurde bescheinigt - heute habe ich ECTS-Punkte (ggf. sogar ohne Anwesenheit) erworben; ein Wissenschaftspreis wurde (mir) verliehen - ich nahm den Preis in Empfang.
Hier deutet sich eine linguistische Verschiebung innerhalb der Sprache (sei sie Deutsch oder Englisch) von Wissenschaft und Wissenschaftlern an, die zwar (noch) Varianz zwischen unterschiedlichen Fachdisziplinen aufweist, zugleich aber Indikator eines veränderten Selbstverständnisses von Wissenschaftlern und ggf. auch Verständnisses von Wissenschaft sein könnte. Abgerückt wird vom (hehren?) Ideal der Wissenschaft als dem zeit- und kulturbezogenen Gesamt von systematischen Erfahrungen und Erkenntnissen, die auf einen Phänomen-Bereich bezogen in einen Begründungszusammenhang gebracht werden, und von dem (ebenfalls hehren?) Ideal des Wissenschaftlers, der dem Erkenntnisgewinn und ggf. noch der Allgemeinheit selbstlos verpflichtet allein um der Sache Willen, primär intrinsisch motiviert, ggf. zumindest hin und wieder "flow" erlebend sowie die Freiheit von Forschung und Lehre nutzend den Phänomenen und Begründungszusammenhängen auf der Spur ist.
Die linguistische Verschiebung zugunsten aktiver und zulasten passiver Formulierungen in der Wissenschaftssprache steht in Einklang mit dem Menschenbild des aktiven, selbstregulierten, selbstverantwortlichen, auf die eigene Person kausal attribuierenden Individuums, das seit wenigen Jahrzehnten nicht nur in Ratgebern, sondern auch in Teilbereichen der Wissenschaften (vor allem in Bereichen der Medizin und Psychologie) sowie der Gesellschafts- und Gesundheitspolitik normativ vertreten wird. Anschlussfähig ist dies zu psychologisierenden Aufforderungen in Beratungs- und Therapiekontexten, Selbsterfahrungskontexten sowie Alltagsgesprächen, unpersönliche Sprachkonstruktionen dann zu vermeiden, wenn es um die eigene Person geht, und stattdessen - am besten im aktiven Genus Verbi - Ich-Aussagen zu machen. Psychologisch und psychotherapeutisch kann dies nützlich sein (da die Selbstwahrnehmung und -reflexion dadurch differenziert werden können), dies allerdings nur dann, wenn es um Gefühle, Meinungen, Glauben oder selbst- und umweltbezogene Kognitionen geht.
Um das alles handelt es sich in den Wissenschaften, in denen man sich um objektive Beschreibungen und Erklärungen von Gegenstandsbereichen bemüht, nicht. Anstelle des Glaubens tritt in den Wissenschaften der Begründungszusammenhang (die Theorie, das Gesetz), anstelle der Vermutung die prüfbare Hypothese. Bereits Karl Bühler, mit dessen Berufung 1922 die Gründung des Psychologischen Instituts an der Universität Wien verbunden war, wies in seinem 1934 vorgelegten Organon-Modell (Werkzeug-Modell) der Sprache anhand der Binnenverhältnisse von Sprachzeichen, Sender, Empfänger und Gegenstand/ Sachverhalten auf die Bedeutung der Unterscheidung von Ausdrucksfunktion (Beziehung Sender-Zeichen; Symptom), Appellfunktion (Zeichen-Empfänger; Signal) und Darstellungsfunktion (Zeichen-Gegenstand/Sachverhalt; Symbol) der Sprache hin. In den Wissenschaften dominiert die Darstellungsfunktion der Sprache; in angewandter Medizin, Psychologie, Psychotherapie, häufig auch in Alltagsgesprächen dominieren dagegen die Ausdrucks- und Appellfunktionen.
Gefahren der "aktiven" Selbstdarstellung von Wissenschaftlern
Die Selbstdarstellung kann und darf auch Wissenschaftlern nicht untersagt werden, wie weit sie gehen kann und darf, bleibt abzuwägen. Wissenschaftliche Texte, Vorträge und andere Leistungen sind mit Namen, Jahr und Quellenangaben zu zitieren, ansonsten liegt wissenschaftliches Fehlverhalten vor. Reicht das? Für die "Darstellungsfunktion" der Wissenschaftssprache und den wissenschaftlichen Fortschritt reicht das, für die Karriere eventuell nicht (mehr), da sich der Wettbewerb zwischen Wissenschaftlern um Posten, Drittmittel, Personal, Sachausstattung, mediale Aufmerksamkeit, Stipendien, sabbaticals, Wissenschaftspreise etc. verschärft hat. In diesem Wettbewerb sollte es nach den eigentlichen Kriterien der Wissenschaft primär, idealiter ausschließlich um den Beitrag zum qualitativen wissenschaftlichen Fortschritt gehen. Dies wird einerseits durch die Zunahme der "Wettbewerber" und die damit verbundene Informationsfülle, andererseits durch die "modernen", zumeist im Bereich quantitativer, da vermeintlich leichter zu erfassender Kriterien verhaftet bleibenden Evaluierungen wissenschaftlicher Leistungen behindert.
Vergessen wird im Wissenschaftsbetrieb allzu leicht, dass - wie es der ehemalige Mannheimer Ordinarius für Psychologie Theo Herrmann 1996 ausgedrückt hat - Wissenschaft kein "Gemüsehandel" auf einem Marktplatz ist, bei dem der Händler mit den schönsten, besten und vergleichsweise günstigsten Früchten den höchsten (finanziellen) Gewinn macht, sondern dass es in der Wissenschaft zwar auch um Wettbewerb, aber nicht (oder zumindest entscheidend weniger) um ökonomische Kriterien, sondern vielmehr um den Wettbewerb im Erkenntnisgewinn geht. Theo Herrmann sprach sich daher konsequent gegen jede "Merkantilisierung" der Wissenschaft aus.
Selbstdarstellung kann - auch bei Wissenschaftlern - zudem allzu schnell in Hybris ausschlagen, der Narzissmus unterliegen kann. Ein Zuviel an Eigenwerbung, womöglich Hochstapelei (etwa durch Übertreibungen und/oder Vereinfachungen in medialen Präsentationen) können nicht nur dem Wissenschaftler selbst schaden. Schlimmer, sie schaden durch Glaubwürdigkeitsverlust der Wissenschaft allgemein im "public (non-)understanding of science". Dafür gab und gibt es in den letzten Jahrzehnten allzu viele Beispiele.
Hybris und der ggf. durch Medien, konkurrierende Kollegen, Wettbewerbe um Ressourcen etc. erzeugte, dann auch erlebte Zwang dazu, immer schneller immer mehr an "Wissenschaft zu produzieren", kann zudem zu wissenschaftlichem Fehlverhalten verleiten, das von falschen (beschönigenden) Angaben in Schriftenverzeichnis, Drittmittelanträgen und im Curriculum vitae über Plagiate bis zu Datenfälschungen reichen kann. Nur passiver Genus Verbi wird ebenso schlecht sein wie nur aktiver; die richtige Dosis an den korrekten Stellen sollte beim Schreiben wissenschaftlicher Texte beständig gesucht, abgewogen und gefunden werden. Dies ist besser, als sich in und auf die aktive Form zu stürzen, deren Umsetzung seit einigen Jahren durch die auf teilweise weit über 100 angestiegenen Ko-Autorenschaften gerade in den Naturwissenschaften konterkariert wird, da damit wiederum die für passive Formulierungen beklagte "Entpersönlichung" und Quasi-Anonymisierung der Autorenschaft Einzelner verstärkt wird.
Über den Autor
Günter Krampen ist Professor für Psychologie an der Universität Trier und seit 2004 Direktor des Leibniz-Zentrums für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID).